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Hätten die Berner einen See, sie würden ertrinken.


und guido mingels ertrinkt in schwermut. ich denke mal, er tut das, weil er bern doch noch so sehr lieb hat. aus einem anderen grund schreibt man keinen solchen text. erschienen am wochenende im magazin, ausgabe 2005/2. der text hat was. lesen sie ihn hier.


 
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DIE BERNER KRANKHEIT

Bern ist keine Stadt, sondern ein Zustand, und der ist schwer auszuhalten. Weil die Berner verliebt sind in ihre eigenen Klischees. Erkenntnisse eines Exilwahlberners.

Text: Guido Mingels

Ich bin aus Bern herausgefallen wie aus einer langen falschen Liebe. Man kennt das unter Menschen: dass zwei schon ewig zusammen sind und glauben, sie gehörten einander für immer, bis eine dritte kommt und alles, alles anders macht. Und dass man danach plötzlich nicht mehr weiss, woraus die alte Liebe bestand. Ja sich nicht einmal mehr vorstellen kann, dass je eine Liebe da war vorher. Dieser Übergang ist kein allmählicher Prozess, sondern geschieht abrupt und ist nicht umkehrbar. Wer aus Bern herausfällt, kehrt nie mehr zurück.

Beim Stadtspaziergang erscheinen dem Exilwahlberner die langen gebogenen Sandsteinhäuserreihen plötzlich wie das versteinerte Skelett eines gewaltigen, längst ausgestorbenen Tieres. Und schon die Anfahrt vom Grauholz hinunter ins Berner Becken gleicht dem Abstieg in den Krater eines erloschenen Vulkans. In der Münstergasse, jahrelang meine Wohnadresse, stolpern die Bernerinnen gebeugten Hauptes über die Pflastersteine, die sie hindern am aufrechten Gang. Früher war es schön, im dritten Stock auf dem Fenstersims zu sitzen und hinunter zu schauen auf den Berner Handwerkermarkt, wo Kitsch zur Kunst erhoben wird, das Kleinklein zum Ideal. Früher war es schön, auf der Münsterplattform im Cannabisdunst zu flanieren, heute bleibt nur noch Atemnot, und der streng alternative Dresscode der Stadtjugend nervt. Nur ja nicht chic sein, sagt der Berner, nur ja nicht eitel. Früher war es schön, in der Rathausgasse im Drei Eidgenossen zu philososaufen, heute riecht es hier nach ungewaschener Berner Boheme. Am Pyrenees, am Ringgenberg und am Kreissaal vorbei, verlorene Heimat, dann die steile Treppe runter zur Aare, wo es schön war, früher, sich treiben zu lassen, wie tout Berne es tut im Sommer. Heute die Erkenntnis: Wer sich treiben lässt, muss nicht schwimmen. Hätten die Berner einen See, sie würden ertrinken.

Zurück in die Altstadt, die verfluchte, verführerische, die Bern gefangen hält im Mittelalter, die keine Veränderung erlaubt, Unesco-Welterbe, bitte nicht berühren. In der Berner Grossbuchhandlung Stauffacher, Neuengasse, ist ein ganzes Schaufenster mit Dutzenden grauen Bernbüchern ausgelegt. Es ist ein Bildband mit dem Titel «Bern - Gesichter, Geschichten», und der Verkäufer sagt, das Bernbuch sei ein grosser Erfolg. Berner lieben Bücher über Bern.

Und Berner lieben Bern aus den falschen Gründen, ein Blick in dieses Buch macht das klar. Von Berner Journalisten und Autoren geschrieben und von Berner Fotografen bebildert, zeigen diese 180 Seiten unfreiwillig die ganze Berner Krankheit auf. Zunächst einmal ist es vollständig in Schwarzweiss gehalten, ein Verbrechen an der Wirklichkeit, das dafür sorgt, dass selbst das noch unvollendete Klee-Museum aussieht wie aus dem Katalog zur Landi 1964. Und wenn unter den grauen Bildern vom neuen Wankdorf Fussballstadion stehen würde «Oscar Niemeyer 1958», niemand würde sich wundern. Noch das Allerneuste sieht schon alt aus in diesem Buch.

Was Berner lieben an Bern, zeigt beispielhaft die Themenwahl. Da gibt es einen Bildessay über Pflastersteine, es gibt Porträts traditioneller Kleingewerbler in der Altstadt, es wird erklärt, wo der Sandstein herkommt, aus dem die Stadt gebaut ist, es gibt Hymnen an den Berner Dialekt, es gibt eine volkstümliche Reportage aus dem Alternativ-Hippie-Dorf Zaffaraya, es gibt Oden an die «grünen Oasen» der Stadt, an den Bauernmarkt in der Münstergasse sowie an 3018 Bern-Bümpliz, die Banlieue der Hauptstadt.

Ach, die Berner Krankheit heisst saudade, die schöne Lebenstraurigkeit, das Verliebtsein in die Niederlage, wie man es den Portugiesen nachsagt, seit sie ihr Weltreich verloren haben. Bern ist verliebt in seine eigenen Klischees, in die auch ein Exilwahlberner verliebt war, zehn Semester lang: die Gemütlichkeit, der Altbau-Charme, die abgründige Poesie dieser Stadt. Wer hier lebt, wird unweigerlich verführt davon.

Bern ist verliebt, verliebt in seinen Sandstein, den unverrückbaren, der Zeugnis gibt von alter Grösse. Bern ist verliebt in seinen Dialekt, den süss-singenden, urigen, keine Stadt hat so viele lebende Heimatdichter, in keinen modernen Printmedien rinden sich so viele Mundartausdrücke wie in Berner Zeitungen. Bern ist verliebt in seine Verlierer, die kauzigen Altstadt-Kleingewerbler, den alten Coiffeurmeister am Kornhausplatz, die Antiquitätenhändler in den feuchten Kellergewölben; verliebt in Bümpliz, das Verliererquartier, dessen Vorstadthässlichkeit schon Züri-West auf «Bümpliz-Casablanca» romantisiert haben zu einer falschen Suburbia-Coolness, die niemand bestätigen wird, der wirklich dort lebt; verliebt in die Young Boys, diesen zuverlässigen Lieferanten der Enttäuschungen, die der Berner zum Glücklichsein braucht. Bern ist verliebt in seine Bluessänger, Kuno, Endo, Polo und Büne, die der Stadt auf ewig ihren sentimentalen Soundtrack vorspielen. Bern ist verliebt in seine «grünen Oasen», Aare-Gürtel, Marzili, Elfenau, Rosengarten, aus denen es doch zu neunzig Prozent besteht, besser wäre es, die Stadt verliebte sich in ihre wenigen urbanen Oasen zwischen all dem Grünzeug, Bahnhofplatz, Bollwerk, Eigerplatz. Bern ist verliebt in alles Alternative, in die Reitschule, die man nach Brünnen schleppen sollte und stattdessen den Libeskind in die Stadt; verliebt ins Zaffaraya, dieses Reality-Museum für gescheiterte Ideologien, das als eine Art Hippie-Ballenberg unter Heimatschutz steht und nirgendwo anders als in Bern das dritte Jahrtausend hätte erleben können.

LERNEN, DIE BEAMTEN ZU LIEBEN Überhaupt, es gibt zu viel Bern in Bern. Es gibt keine andere Stadt in der Schweiz, vielleicht sogar in der ganzen Welt nicht, in welcher der Diskurs über den eigenen Lebensraum so allgegenwärtig ist - an den Kneipentischen, in den WGs, in den Medien. Statt dass sie einfach lebten mit ihrer Stadt - mal besser, mal schlechter, wie alle anderen Städter auch -, ist Bern den Bernern ein ständiges Thema, als Freude oder als Ärgernis. Und wer herausfällt aus Bern, dem verzeihen die Berner nicht. Den fragen sie unablässig und präventiv beleidigt: Und, ist es jetzt besser dort als hier? Wer herausfällt, gehört zu den Gegnern. Da halten es die Berner mit George W. Bush: either with us, or against us. Man ist entweder mit ihnen oder gegen sie. Die Berner lieben Bern aus den falschen Gründen, haben wir gesagt, und darum folgt hier, zum Schluss, ein Vorschlag, wen die Berner endlich lieben lernen sollten: ihre Beamten. Die sind nämlich keine mehr, sondern heissen längst Bundesangestellte oder New Public Manager. Aber Bern hat das noch nicht gemerkt und pflegt weiter das Klischee der schläfrigen Beamtenstadt, weil es so bequem ist, weil sich damit alles entschuldigen lässt, obwohl das Heer von Staatsdienern das eigentliche, ja das einzige kreative Potenzial der Bundesstadt ist. 40 000 Menschen arbeiten in der Region Bern im öffentlichen Dienst, 18 000 davon in der Bundesverwaltung, das ist insgesamt etwa jeder vierte der 140 000 Jobs in der Stadt Bern. Die Bundesverwaltung ist der einzige Grund, warum gut ausgebildete Berner in Bern bleiben oder Nicht-Berner, oft widerwillig genug, nach Bern ziehen. Die meisten davon sind keine verstaubten Stempelkissenbürokraten, sondern kluge, weit gereiste, vielsprachige Köpfe, Juristinnen, Soziologen, Volkswirte und Philler, die in ihren Büros unbemerkt von der Öffentlichkeit an ihren Reformprojekten brüten. Warum bleiben sie ohne jeden positiven Einfluss auf das Leben, auf die Mentalität in dieser Stadt? Warum sind sie unsichtbar? Weil die Berner ihre New Public Manager nicht lieben, weil sie die Eliten generell nicht mögen, weil ihnen überhaupt alles Elitäre fremd ist. Wenn Bern sich von seiner Krankheit lösen würde, könnte alles anders sein. So wie Basel die Hauptstadt der Industrie und Zürich die Hauptstadt des Geldes ist, so könnte Bern die Hauptstadt der Ideen sein: ein einziger grosser Thinktank, ein intellektuelles Laboratorium, das Berkeley der Alpen.Aber die Berner schauen lieber den Young Boys beim Verlieren zu und den Zaffarayas beim Kiffen. Trotz allem: Bern zugute zu halten sind die Trams, die so schnell wie in keiner anderen Stadt durch die Gassen rasen, ohne Rücksicht auf die Passanten, die vor ihrem Bug erschrocken auseinander stieben. Wären die rasenden Tramführer nicht, die Berner würden glatt vergessen, dass jeder Tag der letzte sein kann.

Lektüreempfehlung: «Bern - Gesichter, Geschichten» herausgegeben von Daniel Gabereil, mit Beiträgen von Lukas Hartmann, Fredi Lerch, Pedro Lenz und anderen sowie Bildern von Hansueli Trachsel und Rudolf Steiner, gab-verlag 2004 Guido Mingels ist Redaktor des «Magazins»

Das Magazin 2005/02


bern, kirchenfeldbrücke




 
on Donnerstag, 27.01.2005 at 7:53 nachm., quimbo answered:

ich finds witzig. im ersten magazin, das seit neujahr auch in bern und basel den zeitungen beiliegt, hat man basel etwas beleidigt. und im zweiten jetzt bern. dann wäre samstag eigentlich züri dran, so fairerweise...



 
on Dienstag, 01.02.2005 at 1:15 vorm., garbageman answered:

nix mit zürich gesehen...









 

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